Suveränität..nicht in Stein gemeiselt

Nachhaltiges Denken umsetzen

Quelle: 2024-06-13 um 09:46 heruntergeladen

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Souveränität: Sie ist kein Auslaufmodell, aber wir müssen sie neu denken

Grenzen haben an Bedeutung verloren, zumal in Europa. Aber es gibt sie noch, genauso wie die Staaten in der EU. Die Union als Gebilde zwischen Staatenbund und Bundesstaat verlangt danach, Staatlichkeit neu zu definieren.

Felix Heidenreich 13.02.2022, 05.30 Uhr

Ein polnischer Grenzpfahl in der Nähe von Burbiszki: Grenzen haben an Bedeutung verloren, zumal in Europa. Aber es gibt sie noch, genauso wie die Staaten in der EU.
Ein polnischer Grenzpfahl in der Nähe von Burbiszki: Grenzen haben an Bedeutung verloren, zumal in Europa. Aber es gibt sie noch, genauso wie die Staaten in der EU.Kacper Pempel / Reuters

Im Herbst 2021 war es so weit: Zwischen der polnischen Regierung und der EU kam es zu einer Art Showdown. Lange konnte man hoffen, die Bälle würden flach gehalten, der Streit ums Prinzipielle sei vermeidbar. Doch dann kam es anders: Das polnische Verfassungsgericht erklärte am 7. Oktober 2021 den uneingeschränkten Vorrang des polnischen Rechts: «Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstösst gegen die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration gewahrt bleibt.»

Da war es wieder, das S-Wort: Souveränität. Seit rund zehn Jahren geistert es wie ein Gespenst durch die Politik auf dem alten Kontinent. Marine Le Pen verspricht, die französische Souveränität wiederherzustellen («regagner la souveraineté de la France»). Boris Johnson erklärt gar einen britischen «Independence Day», in der Schweiz wird auf die Souveränität gepocht, und Trumps «America first!» besagte auch nichts anders als: «Wir lassen uns nicht hineinreden!» Nun also das polnische Verfassungsgericht.

In Brüssel konnte und sollte man das Urteil wohl als schallende Ohrfeige verstehen. Ob die Justiz in Polen ausreichend unabhängig arbeiten kann oder nicht, ist aus Sicht der polnischen Regierung eine «innere Angelegenheit». Wie kommen die Brüsseler Bürokraten denn dazu, ausgerechnet uns, den Polen, Nachhilfe in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erteilen zu wollen?, wird man sich sagen. In der Werft von Danzig begann schliesslich das Ende der sowjetischen Diktatur. Auch wenn wir der grösste Nettoempfänger von EU-Fördergeldern sind, werden wir nicht unsere Souveränität aufgeben, so hört man aus Polen.

Asyl für Polen in Deutschland?

Aus Brüsseler Perspektive ist aber genau dieser Rekurs auf Souveränität schon fragwürdig. Wenn die EU ein gemeinsamer Rechtsraum ist – und genau das will sie ja sein –, ist es eben keine «innere Angelegenheit» mehr, wenn die Politik in Polen die Richterinnen und Richter unter Druck setzt. Die EU, so die Brüsseler Sicht, ist eben bereits mehr als ein Staatenbund, mehr als ein blosses Vertragswerk, mehr als ein Markt, nämlich eine Rechtsgemeinschaft.

Wer einem Golfklub beitreten will, braucht Golfkleidung – und kann sich nicht plötzlich, nach Ende des Aufnahmeverfahrens, in der Unterhose auf die Klubterrasse setzen oder in Wanderschuhen über den Rasen trampeln. Die Standards an Rechtsstaatlichkeit aufzulösen, stellt für Brüssel die Geschäftsgrundlage infrage.

Entfällt diese Grundlage jedoch, dann sind ehrgeizige Projekte wie ein europäischer Haftbefehl nicht mehr möglich. Dann stellen sich ganz neue Fragen: Können EU-Länder in Polen gesuchte Straftäter überhaupt noch nach Polen ausliefern? Geniessen deutsche Firmen in Polen noch Rechtssicherheit? Wird Deutschland irgendwann polnischen Oppositionellen politisches Asyl gewähren müssen? Die Fragen klingen verrückt, aber die Politisierung der Justiz in Polen macht sie unausweichlich.

Vollbremsung ist keine Option

Dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg auch in Polen als bindend anerkannt werden muss, ist aus Brüsseler Sicht zudem eine Voraussetzung für die finanzielle Förderung – auch und gerade im Kontext jener Finanzhilfen, die in Reaktion auf die Pandemie beschlossen wurden. Aus Sicht der polnischen Rechten sind das alles Methoden der Gängelung, Versuche der Demütigung, Angriffe auf die polnische Nation. Und so sehen wir also zwei Züge aufeinander zurasen. Wie verhindert man die Kollision? Kann man sie überhaupt noch verhindern?

Dass das Gebilde der EU, das zwischen Staatenbund und Bundesstaat steht und meist als Staatenverbund bezeichnet wird, systematische Fragen aufwirft, war seit langem klar. Aber nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags hoffte man, dass sich das Projekt der europäischen Integration durch die eigenen Erfolge rechtfertigen würde und sich gewisse Inkohärenzen irgendwann auswachsen würden. Aber nun geht es plötzlich ums Ganze. Es ist durchaus möglich, dass dieser Konflikt die Fliehkräfte in der EU weiter stärkt, die Gräben zwischen Ost und West, Nord und Süd weiter vertieft. Vielleicht ist das eine Krise, die die EU eben nicht, wie früher angeblich der Fall, immer stärker macht.

Wo es ums Prinzipielle geht, ist ausweichen schwierig. Weder wird die EU erklären, es sei alles doch nicht so wild, noch kann die nationalistische polnische Regierung behaupten, das mit der Souveränität sei eigentlich doch nicht so gemeint. Wenn aber die Vollbremsung als Option ausfällt, bleibt nur ein Umleiten der Fahrtrichtung. Vielleicht hilft eine ideengeschichtliche Reflexion über den Begriff der Souveränität, um die Situation zu deeskalieren. Lässt sich etwas Luft aus dem Begriffsballon der Souveränität lassen, nicht aus Häme, sondern eher, um das Platzen desselben zu vermeiden?

Wer Herr sein will, braucht Knechte

Souveränität ist ursprünglich ein Begriff des absolutistischen Staatsrechts. Als Schlüsselautor gilt der französische Rechtsphilosoph Jean Bodin, der in den «Sechs Büchern über den Staat» (1576) eine Art Theorie des Absolutismus entwickelte. Der Souverän sollte nur Gott verpflichtet sein, ungebunden agieren können, sich die eigenen Regeln setzen, wie Gott. In der Souveränitätsdefinition des nationalsozialistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt schwingt diese theologische Dimension noch mit: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Der Souverän kann Regeln setzen – und aussetzen. Theologisch bedeutete dies: Gott kann die Naturgesetze ausser Kraft setzen und Wunder bewirken.

Selbst umgangssprachlich schwingt diese Bedeutung von «souverän» heute noch mit. Wenn wir sagen: «Die Kanzlerin bewegte sich souverän auf dem diplomatischen Parkett», so meinen wir damit, dass sie «über den Dingen» stand. Wer souverän agiert, kann auch einen Fauxpas souverän weglächeln, verfügt über eine lässige «sprezzatura». «Souverän» zu reagieren, bedeutet, nicht Sklave von Regeln zu sein, sondern eher deren Schöpfer – oder zumindest deren kreativer Interpret. Souverän ist es daher auch, sich nicht zu echauffieren, erst einmal nicht zu reagieren oder zu etwas explizit keine Meinung zu haben. Man «steht drüber», wie es so schön heisst, ganz nonchalant.

Unter vormodernen Zeichen sind die souveränen Kaiser, Könige und Fürsten die Einzigen, die für sich so etwas wie Selbstbestimmung in Anspruch nehmen können. Nur in den freien Republiken oder den freien Städten gab es Ausnahmen. Für alle anderen galt: Herr oder Knecht. Entsprechend ist von den Souveränisten oft zu hören, sie wollten endlich wieder «Herr im eigenen Hause» sein. Wer aber davon träumt, herrisch aufzutreten, braucht Knechte.

Über allen gewöhnlichen Menschen

Und wie stehen wir heute zu diesem vormodernen Erbe? Mit dem Ende des Absolutismus setzte eine merkwürdige Doppelbewegung ein: Rhetorisch und künstlerisch konnte die neue Gesellschaft einerseits gar nicht genug bekommen von Souveränität. Napoleon gestaltet, auf dem Schimmel, gottgleich den europäischen Kontinent nach seinem Willen. Er inkarniert wie kaum sonst jemand die Vorstellung des souveränen Subjekts. Als Genie steht er souverän über den Regeln der gewöhnlichen Menschen, macht Unmögliches möglich und vollbringt, beispielsweise in Austerlitz, regelrechte Wunder. Er personifiziert die französische Nation und ihre Rolle als Avantgarde der Menschheit.

Auch andere Genies schiessen Anfang des 18. Jahrhunderts überall wie Pilze aus dem Boden: Komponisten, Dichter, Denker. Auch sie setzen die Regeln der Natur ausser Kraft, schaffen Übermenschliches, stehen mit höheren Sphären in Kontakt. Besonders im von der Romantik geprägten Deutschland wimmelte es von ihnen. In Frankreich wird Victor Hugo als «Napoleon der Literatur» bezeichnet; auch er schuf ganze Welten. Selbst die Reiterstandbilder werden nun immer dynamischer und spektakulärer. Ende des 19. Jahrhunderts sind die Spitäler dann voll mit Menschen, die sich für Napoleon halten, sich auf einem Feldherrenhügel wähnen und von dort die Welt souverän gestalten wollen.

Bis zu Hitler zieht sich diese Vorstellung von aussergewöhnlichen Männern, Führern und Genies. Ihren Abklatsch findet sie in der Begeisterung für den Leader in den populistischen Bewegungen der Gegenwart. Auch sie versprechen die politische Macht zu personifizieren und damit die abstrakte «Rule of Law» zu überwinden. Gerne zeigen sie sich tatkräftig, mit nacktem Oberkörper, sportlich, aktiv, wagemutig. Sie versprechen, durchzugreifen, anzupacken, die Fesseln zu sprengen, den gordischen Knoten zu durchschlagen, statt sich mit einzelnen Paragrafen zu beschäftigen.

Der Punkt auf dem i

Allein in der inszenierten Tat, nicht im Wort beweist sich ihre Souveränität. Schon allein deshalb steht souveränistisches Denken in einem Konflikt mit demokratischer Politik, in der immer furchtbar viel geredet wird. Donald Trump machte selbst das Unterzeichnen von Vorlagen zu einer medial inszenierten Grosstat und liess sich dabei filmen, wie er eine riesige, beinah kindhaft anmutende Unterschrift unter allerlei Dokumente setzte: Schreiben als Handeln. Noch immer stösst so etwas auf Resonanz.

Andererseits aber besteht die Modernisierung und Demokratisierung gerade im Gegenteil zum Topos der Souveränität, nämlich in der Einhegung eines ungebundenen Willens. Dies gilt zunächst für die Einhegung der Macht in den konstitutionellen Monarchien wie beispielsweise Grossbritannien. Der Souverän, die Queen, zeichnet sich hier durch blosses Repräsentieren aus; sie soll gerade nicht mehr handeln, sondern nur noch, wie Hegel schrieb, den Punkt auf das i setzen.

Aber auch die amerikanische Verfassung kann bekanntlich als ein Versuch gelesen werden, der Souveränität des Präsidenten Gegengewichte an die Seite zu stellen, die berühmten «Checks and Balances». Auch die Volkssouveränität wäre eine fatale Erfindung, so die leitende Idee, wäre sie nicht durch das Recht gefasst, gebändigt, gezügelt.

Souverän heisst nicht ungebunden

In diesem Sinne haben wir Rousseaus Vorstellung einer ungebremsten Volkssouveränität überwunden. Er hatte mehr oder weniger explizit die absolutistische Konzeption der Souveränität zur Volkssouveränität umgedeutet. «Das Volk» soll das letzte Wort haben. Demokratisierung aber besteht auch in der Prävention einer möglichen Diktatur der Mehrheit, die sich aus dieser Vorstellung ergeben kann. In vielen Ländern hat auch die gesetzgebende Versammlung, also das Parlament, klar gezogene Grenzen zu beachten, die meist von Verfassungsgerichten bewacht werden.

Wo der absolutistische Herrscher die Macht noch in einem Körper veranschaulichen konnte, setzen Demokratien folglich auf abstrakte Regeln, auf Verfahren, die zum Konsens zwingen und Minderheiten schützen. Der Körper der Volkssouveränität wird sozusagen zergliedert; Gewaltenteilung heisst das Zauberwort. Damit aber wird die Vorstellung der Souveränität als Ungebundenheit überwunden: Demokratische Macht ist immer gebundene Macht. In der Demokratie gibt es kein letztes Wort, sondern nur eine derzeitige Beschlusslage. Nach der Abstimmung ist immer vor der Abstimmung. So richtig souverän ist hier niemand mehr.

Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz bekommt die Rede von der Souveränität als Gespenst nun einen neuen Sinn. Jacques Derrida war der Ansicht, Gespenster seien Dinge, die man nicht gut genug beerdigt habe. Deshalb kehren sie wieder, etwas zerzaust, schon halb verwest, und gerade deshalb erschreckend und gefährlich. Vielleicht hat man sich in Europa noch nicht ausreichend von der Souveränität verabschiedet, vielleicht geistert sie deshalb durch unsere Debatten? Gespenster verkörpern immer auch unbewusste Wünsche, sie geben der Wiederkehr des Verdrängten eine Gestalt.

Demokratie kann ersticken

Der Wunsch nach Souveränität ist nicht nur verständlich, sondern legitim. Denn die Demokratie kann auch durch ein Übermass an Einhegung erstickt werden. Dass der EuGH die EU-Verträge in der Regel zugunsten der EU und zuungunsten der Nationalstaaten auslegt, dass hier eine schleichende «Konstitutionalisierung der Verträge» (Dieter Grimm) stattfindet, kann man durchaus kritisch sehen.

Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass die EU kollektiv bindende Entscheidungen auf demokratisch fragwürdige Weise hervorbringt. Ursula von der Leyen wurde ja nicht nur von den EU-Bürgerinnen und -Bürgern nicht gewählt, sie war noch nicht einmal Kandidatin – in einem Wahlkampf, den die EU als Sternstunde der Demokratie zu inszenieren versuchte.

Aber vielleicht ist die Vorstellung einer nationalen Souveränität eine irreführende Kontrastfolie. Denn ungebunden ist Souveränität ja heute ohnehin nicht mehr. Kein Wahlvolk und auch keine Regierung kann heute einfach beschliessen, was sie will. Nicht nur die rechtlichen Bindungen geben hier klare Korridore des Möglichen vor – es sei denn, die Politik macht sich die Verfassungsgerichte (ganz «souverän») untertan. Auch die internationale Verflechtung lässt das Beharren auf nationaler Souveränität präpubertär erscheinen: Die Briten hatten im Herbst 2021 endlich nur noch britische Lkw-Fahrer, nur leider viel zu wenige und daher kein Benzin mehr in den Tankstellen. Wie souverän!

Wasser auf die Mühle der Populisten

Man muss nicht bis zu Ludwig XIV. und Jean Bodin zurückgehen, um zu sehen, dass der Begriff der Souveränität aus der Zeit gefallen ist. Die Frage lautet heute schlicht, wie sich die Idee demokratischer Selbstbestimmung verteidigen und erneuern lässt angesichts einer Übermacht von Sachzwängen, einer Diffusion von Macht in Komplexität, einer professionalisierten Lobbyarbeit und einer kaum mehr überschaubaren ökonomischen Verflechtung. Das ist eine komplexe Frage, die auch nur komplexe Antworten erlauben wird.

Im Falle Polens ist die Konfliktlage zudem durch die historischen Hintergründe belastet. Wie bitte soll denn die Kommissionspräsidentin von der Leyen diesen Konflikt «sachlich» ausfechten – mit einer polnischen Regierung, als Deutsche? Dass in Polen der Nationalstaat als das endlich erreichte Ziel gesehen und die Rede von einer «postnationalen Konstellation» (Habermas) nur mit Verwunderung wahrgenommen wird, darf niemanden erstaunen.

Kaum ein Land und kaum ein Volk dürfte so unter dem imperialen Machtstreben der Nachbarn gelitten haben. Die polnische Gefühlslage ist daher sehr gut nachvollziehbar: Aus guten Gründen will man nicht von Brüssel aus regiert werden. Deutsche EU-Beamte, die als Oberlehrer auftreten, giessen Wasser auf die Mühlen der Populisten und Nationalisten.

EU ja, aber nicht zu jedem Preis!

Aber müsste nicht gerade auch ein stolzer polnischer Patriotismus hellhörig auf die Einschätzungen von aussen reagieren? Stolz darf man in Polen ja nicht nur auf die Nation sein, sondern auch auf die Demokratie – inklusive Gewaltenteilung und Verfassungsgericht. Dass dieses Prinzip durch die Disziplinarkammer für die Richterinnen und Richter verletzt würde, ist ja keine Geschichte, die sich die Feinde Polens aus purer Langeweile ausdenken. Im Sommer 2021 wurde in Warschau bezüglich der Disziplinarkammer Einlenken kommuniziert. Zugleich aber verkündete der Justizminister Zbigniew Ziobro, sein Land sei nicht bereit, jeden beliebigen Preis für die EU-Mitgliedschaft zu bezahlen.

Und nun? Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki warnte in der «Financial Times» die EU davor, einen «dritten Weltkrieg» zu beginnen. Würde die EU die in Aussicht gestellten Gelder nicht auszahlen, werde man sich mit «allen Mitteln» wehren. Bestünde wahre Souveränität nicht darin, auf das Geld aus Brüssel zu verzichten? Ganz offenbar hört dort der Anspruch auf Eigenständigkeit dann doch auf. Die EU-Mitgliedschaft stösst in Polen auf eine überwältigende Zustimmung. Ein Polexit scheint da wie eine absurde Schimäre.

Ob der Konflikt mit der Russischen Föderation die innereuropäischen Konflikte nachhaltig überdecken wird, ist offen. Es wäre eine schöne Ironie der Geschichte, wenn Putins Versuche der Spaltung am Ende eine neue Einigkeit provozierten. Auch hier ist es das Gespenst der Souveränität, das Ärger bereitet. Russland behauptet, es sei sein souveränes Recht, die eigenen Truppen dorthin zu verlegen, wohin es beliebe, natürlich auch an die ukrainische Grenze. Eine ukrainische Souveränität, die auch die Bündniswahl einschlösse, will man indes nicht anerkennen.

Nicht alle Geister wird man los

Natürlich ist das ukrainische Volk in dem Sinne «souverän», dass es frei entscheiden kann, ob es sich nach Westen oder gen Russland orientieren will. Diese Freiheit muss verteidigt werden. Aber auch das naive Pochen auf Souveränität auf der westlichen Seite wirkt beinahe weltfremd: Dass es Russland «gar nichts» angehe, ob die Ukraine der Nato beitrete oder nicht, ist irgendwie unplausibel. Würde man die Absolutheitskategorie der Souveränität hinter sich lassen, würden manche Dinge vielleicht leichter.

Aber nicht alle Geister und Gespenster, die man rief, wird man so schnell wieder los. Eine falsche, man könnte vielleicht auch sagen: naive Interpretation des Souveränitätsbegriffs droht jedenfalls den Anspruch auf nationale Selbstbestimmung in einen Widerspruch zur Rechtsstaatlichkeit zu treiben. Am Ende dieser Denkfigur steht dann die «illiberale Demokratie» eines Orban, also ein «hölzernes Eisen». Zeit also, die Gespenster Europas beim Namen zu nennen, um sie zu bannen.

Felix Heidenreich lehrt Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart.